Vorwort und Einführung
Wer oder was ist eigentlich ZART-BITTER ?
Zartbitter ist unter anderem auch eine Geschmacksrichtung von Schokolade.
Das Wort wurde schon in den achtziger Jahren in der freiwilligen Sozialarbeit gewählt, um damit Treffs (zum Beispiel Cafés) für Trebegänger (auf der Straße lebende Jugendliche) oder prostitutionsgefährdete Mädchen und Jungen zu benennen, ohne sie abzuschrecken.
Im konkreten Fall entstand der Name ZARTBITTER allerdings nach der Aussage einer Frau über ihre Erfahrung mit sexueller Gewalt in der Kindheit:
"Zart war ich – bitter war's."
ZART-BITTER, die heutige Ausstellung, ist eine besondere- eine, die uns unter die Haut geht und uns irgendwie angreift... warum ist das so?
Eine junge Frau macht einen Schritt und ich nenne sie jetzt Ilona, sie will heute ihr Schweigen
brechen, denn sie weiß, dass sie mit Schweigen nur den Täter schützt. Sie wollte dieser Ausstellung ihren Namen geben, wollte sich nicht verstecken.
In den letzten Wochen und Monaten, in der Zeit der Vorbereitung auf den heutigen Tag wurde die Bedrohung aber zu groß und so hat sie sich entschlossen als Pseudonym aufzutreten. Ilona macht heute einen Schritt, den sicher manche aus dem Publikum nicht verstehen können und auch nicht wagen würden.
Das zeigt uns: Sie ist eine sehr starke Persönlichkeit, sie hat uns etwas zu sagen
, etwas zu sagen zu einem Thema, dass uns allen bekannt ist, aber über
dass wir irgendwie nie richtig sprechen können, oder mögen. Uns stockt der
Atem, wenn wir etwas über Kindesvergewaltigung hören.
Es ist ein Thema, wie ein Geist... wir beschäftigen uns schon damit. Wir
alle wissen,
es passiert täglich und doch verdrängen wir
es irgendwie, weil
es uns unter die Haut geht und
es verboten ist und
es doch täglich passiert.
Auch die Texte von Ilona gehen uns unter die Haut und das ist gut so. In einem
Gespräch sagte mir Ilona: Sie habe schon oft ihre Texte veröffentlichen wollen,
dann aber auch wieder einen Rückzieher gemacht. Sie stellte sich selbst die
Frage: warum mache / will ich das überhaupt??? Sie sagte einmal: "Weil es mir
auf der Seele brennt, was da geschieht, und trotzdem immer wieder von der
Gesellschaft beiseite geschoben wird." Sie möchte mit uns allen, 'unserer Gesellschaft' den Spiegel vorhalten, sie will nicht im Mittelpunkt stehen, sie möchte
Zeichen setzen.
'Respekt' kann ich nur sagen.
Meine Damen und Herren,
wenn Kinder vergewaltigt werden, geschieht das nicht nur in großen Städten,
sondern überall- auch mitten in Ostfriesland. Gleich nebenan oder im eigenen
Haus. Und die Betroffenen werden oft mundtot gemacht, weil es Verwandte
oder Freunde sind, die vergewaltigen, die Betroffenen werden zum Schweigen
verurteilt... von dem Täter und oft auch von den Angehörigen. Weil es den Angehörigen
peinlich ist... weil es im eigenen Haus passiert ist... in der eigenen
Verwandtschaft... oder bei Freunden...
Und Ilona sagt: "wenn man dann endlich das Schweigegebot des Täters durchbricht,
dann stößt man auf Unverständnis, selbst bei anderen 'Überlebenden',
weil sie glauben, durch ihr Schweigen schützen sie sich."
Ilona hat als Kind ihre Texte geschrieben und tief vergraben und dann wieder
hervor geholt. Und dafür müssen wir ihr danken, denn sie bricht mit ihren Texten
ein Tabuthema.
Ein Tabu, dass uns allen wehtut, dass wir alle kennen, aber immer
noch sehr verdrängen.
Weil etwas nicht sein kann und darf: unschuldigen Kindern große Schmerzen
zufügen, unschuldigen Kindern Gewalt antun und sie noch zum Schweigen verpflichten. Ich stelle mir immer die Frage: handelt es sich um Kindesmissbrauch
oder Kindesvergewaltigung? Liegt da nicht etwas ganz schief?
In der Rechtssprechung spricht man immer noch von Kindesmissbrauch- ich
meine: es gibt Alkoholmissbrauch, es gibt Drogenmissbrauch. Bei Missbrauch
fügt der 'Missbrauchende' sich selbst Leid zu, bei Vergewaltigung einem anderen
Menschen... bei so genanntem 'Kindesmissbrauch' einem Kind.
Es gibt keinen Kindesmissbrauch, der Ausdruck ist falsch- wir müssen uns dafür
einsetzen, dass in Zukunft von Kindesvergewaltigung zu sprechen ist. Und wir
müssen nicht nur denken, wenn wir uns damit beschäftigen, wir müssen nachdenken,
wir müssen endlich handeln. Augen und Ohren öffnen und uns dafür
einsetzen, dass Kindern kein Leid mehr zugefügt wird.
Bei meiner Vorbereitung für heute habe ich mich immer wieder gefragt: "wie oft
hat Ilona die Texte gelesen, wie oft ausgegraben und wieder vergraben? Kann
sie es selbst noch sagen? Wie oft hat sie versucht Hilfe zu finden, ging vorwärts
und dann wieder rückwärts, weil die Ohren derer taub waren, von denen sie Hilfe
erwartete?"
Als Fünfjährige wurde sie das erste Mal vergewaltigt.
Wie oft hat Ilona versucht
wegzulaufen und keine Hilfe gefunden? Und jetzt, wo sie an die Öffentlichkeit
geht, stößt sie ebenfalls auf Widerstände. Widerstände, die sie so nicht vermutet
hat, die sie nicht erwartet hat, von Leuten, die ihr nahe stehen, nahe standen.
Von Leuten, die Angst vor der Wahrheit haben, ja vielleicht sogar Angst vor sich
selbst.
Ilona spricht immer wieder davon, dass sie eine 'Überlebende' ist und sie möchte
leben, leben so wie andere auch. Ilona möchte ein ganz normales Leben führen,
so wie andere auch. Sie möchte lachen und Blödsinn machen, so wie andere
auch. Sie sagt, sie möchte als Überlebende kein kleines graues Mäuschen sein,
sondern sich angenommen fühlen, so wie alle jungen Frauen in der Gesellschaft.
Wir 'Nichtbetroffenen' glauben immer, dass wir wissen, wie die 'Betroffenen' mit
dem Thema umgehen sollen. Wir empfinden Mitleid, Trauer und haben ein Bild
im Kopf, wie der Mensch aussehen muss, wenn ihm so etwas widerfahren ist.
Jede Betroffene erlebt ihr Leid, ihr eigenes Leid. Es gibt viele Beratungsstellen,
ob alle qualifiziert sind, wissen wir nicht. Wir stehen mit großer Hilflosigkeit da.
Und noch etwas: wir sind Verdrängungskünstler… das ist einfacher.
Und das Schlimmste: oft wird den Betroffenen nicht geglaubt... Oft werden die
Opfer zurück gewiesen, finden kein Gehör… und sie vergraben ihr Unglück.
Wir nennen uns eine zivilisierte Gesellschaft und schützen oft Täter, weil es uns
unangenehm ist, mit diesem Verbrechen offen umzugehen. Schweigen? Nein,
Verantwortung übernehmen, wir fühlen uns doch sonst immer für alles verantwortlich!!
Es ist egal, ob es im Nachbarhaus in Aurich, in Leer oder Emden, oder in der
Großstadt Frankfurt oder in einem Kriegsgebiet in Afrika oder Afghanistan ist.
Kinder, insbesondere Mädchen werden sexuell misshandelt oder vergewaltigt.
Warum? Weil erwachsene Männer und manchmal auch Frauen ihren Trieb nicht
unter Kontrolle haben. Warum schweigen wir dazu? Warum gibt es nicht mehr
wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema?
Kinder in der ganzen Welt sind Opfer von bösen Sexualverbrechen und die Erwachsenen
schweigen. Weil die Erwachsenen die Täter sind? Schweigende
sind Mittäter, Kinder die Opfer. Täter in Familien, Täter bei Freunden, Täter im
Ausland in Bordellen, Täter, die als Soldaten ihren Auslandseinsatz machen und
Täter, die als Soldaten für irgendetwas kämpfen... Was ist das?
Und wenn man mit Frauen unter Frauen spricht, dann wundert man sich, wie viel
Frauen insbesondere als Kind oder Jugendliche 'unsittlich' angefasst wurden
und fast nie darüber gesprochen haben…. oder ihnen nicht geglaubt wurde.
Wie grausam.
Wie können wir Erwachsenen dazu schweigen, wie können wir solche Verbrechen
zulassen?
Meine Damen und Herren,
zu dieser Ausstellung ist ein sehr schönes kleines
Büchlein herausgegeben worden. Unter dem Titel ZART-BITTER finden wir die Texte
von Ilona und dazu passend Fotografien von Michael Schildmann. Die Texte und
die Fotos finden in diesem Buch ihren Einklang.
Ich finde: sehr gelungen, künstlerisch mit den Fotografien von Michael Schildmann einzigartig getroffen, mit den
Texten von Ilona fließend zusammengestellt. Einzigartig die Aufmachung, nach
jedem Text zwei Leerseiten...zum 'Nachdenken', oder ich möchte sagen, zum
'Verarbeiten'.
Ein Buch, das eigentlich jeder Erwachsene lesen sollte, um dann mit anderen zu
diskutieren.
Meine Damen und Herren, diese Worte von Ilona sollten uns wach machen:
Angst, Panik
Stumme Schreie von mir
Was hast Du getan
Was machst Du mit mir?
Starr vor Entsetzen,
Schmerz überall.
Wie Feuer,
ein Messer entzweit
meinen Schoß.
Entweiht durch Dich
Mit roher Gewalt
Befriedigst deine Lust
An dem Kind in mir
Pervers, verboten,
wie ein Tier fällst Du
Über mich her
Immer wieder
Kein Entkommen in Sicht.
Ilona ist eine sehr starke couragierte Frau, ich wünsche ihr weiterhin viel Mut und
Kraft auf ihrem Weg. Sie ist ein Vorbild für uns und viele andere. Nehmen wir
diese Worte in uns auf:
Zartbitter zart bin ich - bitter war’s.
Vielen Dank für ihr Zuhören, meine Damen und Herren, ich eröffne hiermit die
Ausstellung.
Engeline Kramer, Leer